Für großes Entsetzen und große Betroffenheit in der gesamten Alevitischen Gemeinschaft in Deutschland sorgten die in der Sendung des radioeins vom rbb „Live im Tipi Vol. 6 | Schroeder & Somuncu #102“ (https://www.radioeins.de/archiv/podcast/schroeder-somuncu.html, https://www.youtube.com/watch?v=PK-ftNFu_vU) vom 14.02.2023 gefalle-nen folgende Worte Herrn Serdar Somuncus, die den Jahrhundertealten Inzestvorwurf ge-gen Alevit*innen wiederholte, sind für uns in keiner Weise hinnehmbar, insbesondere unter den auch in eben dieser Sendung angesprochenen (00:59:52) aktuellen Umständen und Folgen des Erdbebens, die mehrheitlich Alevit*innen und Kurd*innen treffen.

Diese Aussage, die das Bild der inzestiösen Alevit*innen aufgriff, ist – auch in Deutschland – kein Neues. Es beruht auf der Diffamierung der Alevitischen Glaubensgemeinschaft seit dem 16. Jahrhundert. Ausgangspunkt dieser Diffamierung ist unter anderem, dass das Ale-vitentum von der Gleichheit aller Geschlechter ausgeht und in den Glaubenszeremonien alle Geschlechter gemeinsam ihre Rituale praktizieren. Dies steht in besonders krassem Widerspruch zur herrschenden Dominanzreligion des Islam, welche eine strikte Trennung der Geschlechter, insbesondere auch bei den Glaubenszeremonien, vorsieht.
Den Einzug in die deutsche Realität schaffte diese Diffamierung unter anderem mit dem „Almanca Türkçe Sözlük“ (Deutsch-Türkisches Wörterbuch) von Karl Steuerwald noch bis zuletzt in der Ausgabe aus dem Jahre 1998. In diesem wurde der Begriff „Inzest“ mit dem Wort „Kızılbaş“, eine früher verbreitetere Bezeichnung für Alevit*innen, übersetzt.

Eine Kontinuität dieser Diffamierung stellt die Ausstrahlung der Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt“ am 23.12.2007 im Ersten dar, in der ein Mord im Zusammenhang mit einem Inzest-Fall in einer alevitischen Familie aufgeklärt werden sollte. Um unseren Unmut über die bewusste Diffamierung unserer Glaubensgemeinschaft durch die Tatort-Folge zum Aus-druck zu bringen, riefen wir unsere Mitglieder dazu auf, an einer Großdemonstration in Köln teilzunehmen. Hierbei kamen 20.000 Menschen zusammen.

Nun wurde in der oben genannten Folge durch die Aussage, die wir hier nicht noch einmal zitieren möchten, das Vorurteil und die Verunglimpfung ohne jegliche Klarstellung und Er-läuterung, wieder öffentlichkeitswirksam verbreitet. Obwohl die AABF nach mehr als 30-jährigem Bestehen nicht nur die größte Migrant*innenselbstorganisation, sondern auch eine der wenigen anerkannten Religionsgemeinschaften in Deutschland darstellt, ist sie einem Großteil der deutschen Bevölkerung nicht bekannt. Daher ist es neben der von Herrn So-muncu angezweifelten Intelligenz seiner Zuhörer*innen unter diesem Gesichtspunkt beson-ders relevant, dass auf die Verfolgung und Stigmatisierung mit dieser Inzest-Lüge hinge-wiesen wird. Wir gehen davon aus, dass Herr Somuncu sich der Brisanz der Thematik für Aleviten*innen bewusst war und auch wusste, dass innerhalb der Mehrheitsgesellschaft über die Hintergründe und die Geschichte dieser Verleumdung lediglich wenige Menschen Kenntnisse haben.
Nicht nur als Bürger*innen der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch als Alevitische Glaubensgemeinschaft, die Schutz vor den Verfolgungen in der neuen hiesigen Heimat ge-funden hat, schätzen und respektieren wir die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Kunst- und Meinungsäußerungsfreiheit als Teile eben dieser. Allerdings möchten wir auf Grenzen hinweisen. Nicht nur juristische Grenzen, sondern Grenzen des Aushaltbaren für mehrfachdiskriminierte und verfolgte Gesellschaftsgruppen. Gewiss misst sich die Stärke einer Demokratie an der Toleranz für Unterschiede. Für eine Gemeinschaft, dessen Le-bensrealität von den Folgen des Erdbebens und dem andauernden Ausnahmezustand in der Türkei geprägt ist, die seit mehr als zwei Wochen in tiefer Trauer ist, die keine staatliche Hilfe erhält und ihre gesamte Kraft für Rettungs- und Koordinierungsmaßnahmen aufwen-det, ist die Toleranzgrenze aktuell nicht besonders hoch, die Grenze des Aushaltbaren be-sonders gering. Herr Somuncu, der immer wieder betont, dass „jede Minderheit ein Recht auf Diskriminierung“ habe, vergisst hierbei, dass Satire in der Regel auf privilegierte Gesell-schaftsgruppen angewandt wird, wozu die Alevit*innen keinesfalls gehören. Er reproduzier-te durch seine Äußerungen lediglich strukturellen Rassismus gegen Alevit*innen.
Unsere Forderungen an den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) im Zusammenhang mit der gegenständlichen Folge waren: Das Herausschneiden der oben genannten Stelle aus der Folge und eine öffentliche und ernsthafte Entschuldigung und eine klarstellende Erläuterung.
Auf unsere Nachricht reagierte die Intendanz entsprechend unserer Forderungen. Sie teilte uns mit, dass es sowohl den Künstlern als auch dem radioeins leid tue und die entspre-chenden Passagen entfernt sowie eine klarstellende Erläuterung hinzugefügt worden sind.
Dies begrüßen wir als AABF. Im Anschluss an die Tatort-Folge 2007 des NDR, in der die Alevit*innen das erste Mal und hierbei ausgerechnet mit dem Inzest-Vorwurf im deutschen Fernsehen vorkamen, wurden unsere Forderungen nicht beachtet. Im Gegenteil waren sie auf großes Unverständnis gestoßen. Im Sinne der Einheit in Vielfalt und einer solidarischen Gesellschaft verzeichnen wir daher die Maßnahmen, die vom rbb ergriffen worden sind, als anerkennenswert.

Alevitische Gemeinde Deutschland K.d.ö.R.

Für weitere Informationen: info@aabf.de

PM Reproduktion antialevitischer Rassismen in der Sendung Schroeder u Somuncu im radioeins